Das Protein taucht in unfassbaren knapp acht Millionen Artikeln aus der Forschung auf. Aber noch unglaublicher ist ein anderer Aspekt. Der deklarierte Proteingehalt von Lebensmitteln ist oft falsch. Der erste Teil der Kuriosität zum Protein beschreibt, wie es dazu gekommen ist. Der zweite Teil diskutiert dann dessen Folgen bei der Beurteilung der Proteinzufuhr.
Die Geschichte der täuschenden Proteindeklaration beginnt in den Niederlanden. Protagonist ist der Mediziner Gerrit Mulder, ein echter Workaholic. Neben seiner medizinischen Praxis lehrt er Ende der 1820er-Jahre in Rotterdam Botanik, Chemie, Geologie, Mineralogie, Pharmazie, Physik und Zoologie 1. Das Unausweichliche tritt ein – Mulder erleidet ein Burn-out und kollabiert. Er nimmt sich etwas zurück und fokussiert sich fortan nur noch auf die Chemie 2.
Protein: Der Namensgeber
Mitte der 1830er-Jahre untersucht Mulder die elementare Zusammensetzung verschiedener Eiweisse. Er realisiert dabei, dass diese Eiweisse eine ähnliche Grundstruktur aufweisen und sucht nach der entsprechenden molekularen Formel. Akribisch bestimmt Mulder in diversen Substanzen den atomaren Gehalt der Eiweisse, unter anderem in Rinderfasern, Hühnereiern, Käse und «Pflanzen-Eiweiss». Die ermittelten Mengen an Kohlenstoff, Wasserstoff, Stickstoff und Sauerstoff listet er schliesslich minutiös in einer 1838 erscheinenden Publikation auf.
In dieser Publikation bezeichnet Mulder zum ersten Mal die Eiweisse als «Proteine», die ersten oder primären Stoffe 3. Der Begriff Protein stammt aber nicht von ihm selbst. Es ist einer der grössten Chemiker dieser Zeit, der Schwede Jacob Berzelius, der den Begriff vorschlägt. Mulder unterhielt mit Berzelius einen regen Austausch und in einem Brief vom 10. Juli 1838 meint Berzelius: «Diesem Stoff muss man einen einzigartigen Namen geben, zum Beispiel Protein» 1.
Der Beginn der Täuschung: Eine zu starke Vereinfachung
Ein Ergebnis aus der über 70-seitigen Publikation von Mulder legt den Grundstein für die heute immer noch übliche analytische Bestimmung der Proteine. Die im Labor von Mulder ermittelte atomare Zusammensetzung des Eiweisses der Rinderfasern und Eier ergibt einen Anteil von nicht ganz 16 Prozent Stickstoff 3.
Als molekulare Formel für diese beiden Proteine identifiziert Mulder schliesslich C40H62N10O12, gemäss derer der Stickstoff einen Gewichtsanteil von exakt 16 Prozent haben muss. Da bei molekularen Formeln das Gewicht und Verhältnis der Atome per Definition immer exakt sind und bei einzelnen Analysen immer kleine Messfehler vorkommen, übernimmt man schliesslich die «Mulder-Formel» als die exakte Zusammensetzung aller Proteine 2.
Die 16 Prozent Stickstoff aus Mulders Formel sind heute sogar gesetzlich verankert. In Europa und in der Schweiz schreiben die rechtlichen Verordnungen über die Information von Lebensmitteln vor, der deklarierte Proteingehalt müsse auf der indirekten, atomaren Analyse des Stickstoffs fussen und mittels eines einzigen Stickstoff-zu-Protein-Umrechnungsfaktor von 6.25 berechnet werden (1 g Stickstoff x 6.25 = 6.25 g Protein) 4,5.
Der Faktor von 6.25 entspricht dabei nichts anderem als den 16 Prozent Stickstoff aus der Mulder-Formel (100:16=6.25). Dass die Herleitung des Gehalts an Protein mit immer demselben Faktor von 6.25, wie nachfolgend beschrieben, für viele Lebensmittel zu einem falschen Gehalt an Protein führen kann, wäre schon aus der 1838er-Publikation von Mulder ersichtlich gewesen. Denn er selbst erwähnt zum Beispiel beim «Pflanzen-Eiweiss» einen Anteil von 18.4 und nicht 16.0 Prozent Stickstoff 3. Aber es ist einfacher, wenn nur ein Faktor existiert, und vermutlich hat sich die Nutzung von 6.25 als einzigen Faktor aus diesem Grund durchgesetzt.
Jedenfalls bestimmt man den Proteingehalt mittlerweile aus Tradition über die Analyse des Stickstoffs und anschliessender Umrechnung mit dem Faktor von 6.25. Aus physiologischer Sicht ist dies aber nicht akzeptabel. Denn die Kenntnis des echten Gehalts an Protein in den Lebensmitteln ist eine von mehreren Voraussetzungen, um dessen Zufuhr beurteilen zu können. Die Vereinfachung eines Sachverhalts hat oft viele Vorteile, aber manchmal führt sie leider zu eklatanten Fehlern. Oder wie Einstein gesagt haben soll: «Alles sollte so einfach wie möglich gemacht werden. Aber nicht einfacher» 6.
Jones’ Kritik am Faktor 6.25 und die Jones-Faktoren
Eine der grössten Kritiken über die Folgen der Nutzung des einzigen Faktors von 6.25 stammt aus der Feder des amerikanischen Chemikers D. B. Jones. Er hält bereits im Jahr 1931 unaufgeregt, aber unmissverständlich fest: «Die Prozente für Protein in Büchern und Tabellen über die Zusammensetzung von Lebensmitteln sind nur eine Darstellung des Gehaltes an Stickstoff, und in vielen Fällen weit davon entfernt, den echten Gehalt an Protein darzustellen» 7. Jones trägt die damals analysierten Gehalte an Stickstoff im Protein von über 120 Lebensmitteln zusammen und dokumentiert so einen variierenden Gehalt von 13.4 Prozent Stickstoff bei der Avocado bis 19.3 Prozent Stickstoff bei den Mandeln (und daraus abgeleitet Faktoren von 7.46 bis 5.18).
Der Proteingehalt der Mandeln von 26 Gramm pro 100 Gramm wird also aus einem Gehalt von 26:6.25=4.16 Gramm Stickstoff berechnet. Mit dem richtigen Faktor von 5.18 würde aber eine knapp 20 Prozent geringere Menge an Protein von 21.5 Gramm resultieren. Aber dies ist nicht der einzige Grund, weshalb die Ermittlung des Gehalts an Protein über den analysierten Stickstoff fehlerbehaftet ist.
Nicht aller Stickstoff stammt aus dem Protein
Die Stickstoff-zu-Protein-Umrechnung basiert gleich auf zwei falschen Annahmen, die bereits Jones im Jahr 1931 aufdeckte. Neben der Annahme, alle Proteine enthielten exakt 16 Prozent Stickstoff, ist gemäss Jones auch die zweite Annahme, aller Stickstoff komme nur im Protein vor, nicht korrekt. Jones lag damit goldrichtig.
In Lebensmitteln und auch Futtermitteln ist der Stickstoff in verschiedenen Substanzen enthalten. Der Stickstoff, der nicht im Protein vorkommt, trägt die simple Bezeichnung «Nicht-Protein-Stickstoff» (zum Beispiel in Amiden oder in Harnstoff). Während die Bedeutung und Problematik des Nicht-Protein-Stickstoffs bei den Futtermitteln in der Tierernährung bestens bekannt sind, ignoriert man ihn in der Ernährung des Menschen bis heute fast vollständig.
Das Problem mit dem Nicht-Protein-Stickstoff ist in der chemischen Analyse des Stickstoffs begründet. Sie kann nicht zwischen dem Stickstoff im Protein und dem Nicht-Protein-Stickstoff unterscheiden. Daraus folgt: Der Nicht-Protein-Stickstoff führt zu einer Überschätzung des Gehalts an Protein, da er fälschlicherweise als Protein-Stickstoff interpretiert wird.
Wäre die Menge an Nicht-Protein-Stickstoff gering, ergäbe sich auch nur eine geringe Überschätzung des Gehalts an Protein und man könnte den Nicht-Protein-Stickstoff vernachlässigen. Aber einerseits kann er tatsächlich in nennenswerten Menge vorkommen und anderseits kann sein Anteil auch stark schwanken, wie das Beispiel von 20 bis 60 Prozent des als Nicht-Protein-Stickstoff vorliegenden Stickstoffs in Hülsenfrüchten zeigt 8. Eine pauschale Korrektur für den Nicht-Protein-Stickstoff, im Sinne, alle Gehalte an Protein sind um XY Prozent zu hoch und entsprechend zu reduzieren, lässt sich somit nicht anwenden.
Fazit
Die beiden falschen Annahmen bei der aktuellen Bestimmung des Proteins über den Gehalt des Stickstoffs führen zu einer oft beträchtlichen, gesetzlich verordneten Fehldeklaration des Proteins bei vielen verpackten Lebensmitteln sowie in vielen Tabellen oder Datenbanken über die Zusammensetzung der Lebensmittel. Wer den effektiven Gehalt an Protein kennen will, hat nun zwei Möglichkeiten, um ihn ausfindig zu machen. Eine analytische Bestimmung der Aminosäuren im Protein (die Summe der Aminosäuren entspricht dann dem effektiven Gehalt an Protein) oder, falls bereits ein deklarierter Gehalt des Proteins bekannt ist, die mühsame Suche sowohl des richtigen Umrechnungsfaktors sowie der Menge an Nicht-Protein-Stickstoff.
Der effektive Gehalt des Proteins wäre dann zwar eruiert. Aber dies würde immer noch nicht ausreichen, um die Zufuhr des Proteins aus physiologischer Sicht beurteilen zu können. Denn dafür muss man die Aufnahme des Proteins über das Darmsystem sowie die Verfügbarkeit einzelner Eiweissbausteine (Aminosäuren) im Körper kennen. Erst dann ist eine abschliessende Beurteilung der Proteinqualität möglich. Wie diese Beurteilung genau durchzuführen und ob zumindest eine grobe, pauschale Einschätzung der Qualität verschiedener Proteine möglich ist, beschreibt der zweite Artikel zur täuschenden Deklaration des Proteingehalts. Auf alle Fälle ist jetzt bereits eines klar. Beim Protein lautet die Devise: What you see is NOT what you get.
Quellen
- Söderbaum HG. Jac. Berzelius Bref. Uppsala: Kungl. Svenska Vetenskapsakademien, 1916.
- Brouwer E. Gerrit Jan Mulder: (1802-1880). J.Nutr. 1952; 46:1–11.
- Mulder GJ. Over proteine en hare verbindingen en ontledings-producten. Natuur en Scheikundig Archief. 1838; VI:87–162.
- Schweizerische Eidgenossenschaft, Eidgenössisches Departement des Innern (EDI). Verordnung des EDI betreffend die Information über Lebensmittel (LIV) vom 16.12.2016 (Stand am 1. Juli 2020), 2020.
- Verordnung (EU) Nr. 1169/2011 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. Oktober 2011 betreffend die Information der Verbraucher über Lebensmittel und zur Änderung der Verordnungen (EG) Nr. 1924/2006 und (EG) Nr. 1925/2006 des Europäischen Parlaments und des Rates und zur Aufhebung der Richtlinie 87/250/EWG der Kommission, der Richtlinie 90/496/EWG des Rates, der Richtlinie 1999/10/EG der Kommission, der Richtlinie 2000/13/EG des Europäischen Parlaments und des Rates, der Richtlinien 2002/67/EG und 2008/5/EG der Kommission und der Verordnung (EG) Nr. 608/2004 der Kommission. ABl. 2011; L304:18–63.
- Robinson A. Did Einstein really say that? Nature. 2018; 557:30; doi:10.1038/d41586-018-05004-4.
- Jones DB. Factors for converting nitrogen in foods and feeds into percentages of protein No. USDA Circular No. 183, 1931. Washington.
- Periago MJ, Ros G, Martínez C, Rincón F. Variations of non-protein nitrogen in six Spanish legumes according to the extraction method used. Food Res.Int. 1996; 29:489–94; doi:10.1016/S0963-9969(96)00053-1.
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