Neue Erkenntnisse aus der Forschung erfordern oft die Überarbeitung des aktuellen Wissens. Das Neue stösst aber nicht immer auf Akzeptanz und dies ist in der Ernährung leider häufig der Fall. In Italien wurde der in Frankreich entwickelte Nutri-Score nun als irreführend eingestuft. Wir zeigen, wie es zu dieser Einstufung gekommen und ob sie gerechtfertigt ist oder nicht.
Am 1. August 2022 feiert die Schweiz ihren Nationaltag. Am gleichen Tag veröffentlicht die italienische Behörde zur Kontrolle des Wettbewerbes und Marktes ihren 29. Wochenbericht. Es beschreibt diverse unlautere Praktiken im italienischen Handel und eine davon betrifft die Supermarktkette Carrefour, die zu den führenden Detailhandelsgruppen in Europa und der Welt zählt. Falls Carrefour die ihr durch die Behörde auferlegten Massnahmen nicht einhält, wird eine Geldstrafe von bis zu fünf Millionen Euro oder eine Schliessung der Firma von bis zu 30 Tagen fällig. Die unlautere Praktik von Carrefour hat viele überrascht. Denn als unlauter hat die italienische Behörde die Nutzung des Nutri-Scores auf der Vorderseite von Lebensmittelverpackungen eingestuft. Die Begründungen lauten unter anderem: Der Nutri-Score berücksichtigt weder den Bedarf noch das Profil der Konsument:innen, er basiert nicht auf einem wissenschaftlichen Konsens und – er kann die Konsument:innen in die Irre führen 1.
Der Vorlauf zur Entstehung des Nutri-Scores
Im Juli 2013 beauftragt die französische Ministerin für Soziales und Gesundheit einen französischen Professor damit, konkrete Vorschläge für einen neuen Impuls im französischen Programm für Ernährung und Gesundheit zu unterbreiten. Fünf Monate später reicht der Professor einen entsprechenden Bericht ein, den er in Zusammenarbeit mit seiner Assistentin verfasst hat 2. Im Vorwort listet der Professor zahlreiche Personen aus dem Bereich der Gesundheit auf, die er während des Verfassens des Berichts «angehört» hat und die ihn «bei seinen Überlegungen geholfen haben». Er streicht aber dabei klar heraus, dass die im Bericht enthaltenen 15 Vorschläge die Befragten keinesfalls binden würden. Der Professor sagt somit unmissverständlich: Die Vorschläge stellen seine persönliche Meinung dar.
Schon zehn Jahre zuvor erkannte die WHO eine elementare Schwäche in der Herleitung von Empfehlungen im Bereich der Gesundheit. Die Empfehlungen würden oft nur auf der Meinung einzelner Expert:innen basieren und deswegen immer wieder die Gesamtheit der verfügbaren Evidenz nicht objektiv widerspiegeln. Diese sei hingegen mit einem systematischen Screening der Fachliteratur zu identifizieren. Spätestens seit dieser Erkenntnis der WHO, die in der renommierten medizinischen Fachzeitschrift Lancet veröffentlicht wurde 3, sollen wichtige Empfehlungen im Ernährungsbereich nicht auf der Meinung einzelner Expert:innen fussen. Dass konkrete Vorschläge für Massnahmen in einem nationalen Programm für die Ernährung und Gesundheit aus der Feder einer einzigen Person stammen, ist daher schlichtweg nicht nachvollziehbar.
Die Skala der Ernährungsqualität
Der französische Professor ist der mittlerweile emeritierte Mediziner Serge Hercberg. Als Hercberg seinen Bericht zu Händen der französischen Ministerin verfasst, ist er praktizierender Arzt am Spital Avicenne in Bobigny bei Paris und Professor für Ernährung an der damaligen Universität Paris 13, die mittlerweile in Universität Sorbonne Paris Nord umbenannt worden ist. Hercberg präsidiert damals, und unter anderem, auch das nationale Programm für Ernährung und Gesundheit für den französischen Staat.
Der zweite von fünfzehn konkreten Vorschlägen von Hercberg ist die Einführung eines sogenannten Front-of-pack label bei verpackten Lebensmitteln. Er nennt diese Kennzeichnung die «Skala der Ernährungsqualität des nationalen Programms Ernährung und Gesundheit» 2. Die Skala, ein farbenbasiertes Ampelsystem, bezwecke unter anderem die «Aufklärung der Konsument:innen über die nutritive Qualität der Lebensmittel, um sie bei ihrer Wahl der Lebensmittel zu unterstützen». Sie soll aber auch die Konsument:innen «weg von den Lebensmitteln mit minderer nutritiver Qualität und hin zu einer Wahl einer Ernährung führen, die für ihre Gesundheit vorteilhafter ist». Somit widerspricht die später zum Nutri-Score weiterentwickelte Skala von Beginn weg einem Grundsatz der Ernährung: Ein Lebensmittel darf hinsichtlich seiner Wirkung auf den Stoffwechsel – und so auf die Gesundheit – nie ohne Berücksichtigung des Empfängers oder der Empfängerin beurteilt werden (siehe unten).
Ein Vorschlag ohne Prüfung seiner Wirksamkeit – das fünf Farben Ernährungslabel
Serge Hercberg veröffentlicht 2015 die Ergebnisse einer Studie über seine Skala, in der er ihre Fähigkeit untersucht, die nutritive Qualität verschiedener Frühstückscerealien des französischen Marktes widerzuspiegeln 4. Dies bedeutet, wie schon aus dem Vorschlag aus dem Jahr 2013 zu Händen der Ministerin ersichtlich: Die konkret vorgeschlagene Skala ist zum Zeitpunkt ihres Vorschlags weder generell geprüft noch irgendwie an Konsument:innen getestet worden 2. Oder in anderen Worten: Hercberg schlug dem französischen Staat eine Massnahme vor, ohne über Angaben zu ihrer Wirksamkeit zu verfügen.
Hercberg nennt seine Skala nachträglich das «fünf Farben Ernährungslabel», auf Englisch das 5-colour nutrition label (5-CNL). Das Ergebnis seiner Studie zur Eignung der Skala: Das 5-CNL spiegle die unterschiedliche Zusammensetzung verschiedener Cerealien wider. Und deswegen wäre das 5-CNL «ein adäquates Instrument zur Information über die nutritive Qualität der [das heisst: aller] Lebensmittel in Frankreich».
Vom 5-CNL zum Nutri-Score
Im Jahr 2016 modifiziert der französische Staat sein Gesetz zur Modernisierung des Gesundheitssystems. Er integriert darin die Möglichkeit, eine Information über die nutritive Qualität eines Lebensmittels auf der Vorderseite seiner Verpackung anzubringen 5. Zu diesem Zeitpunkt ist aber weder die konkret zu nutzende Skala noch die entsprechende graphische Darstellung der Information definiert, die auf der Vorderseite der Verpackung zu platzieren ist. Ein Komitee, bestehend in erster Linie aus französischen Marketingfachleuten, Psychologen und Ökonomen, wird deswegen mit einer Evaluation von vier möglichen Systemen zur Beurteilung der Lebensmittel beauftragt. Aus diesen vier Systemen wählt das Komitee Mitte März 2017 den «Nutri-Score» aus, der dem ursprünglichen 2013er Vorschlag des 5-CNL von Hercberg bis auf Nuancen entspricht 6.
Ein Tag nach Abschluss der Evaluation gibt die Ministerin für Soziales und Gesundheit am 15. März 2017 in einer Pressemitteilung bekannt: Die Wirksamkeit des Nutri-Scores wurde von einem «unabhängigen wissenschaftlichen Komitee» nachgewiesen und dessen Nutzung würde deswegen unmittelbar per Dekret umgesetzt 7. Hercberg und Julia kommentieren diese Pressemitteilung, indem sie beschreiben, wie der von ihnen entwickelte Nutri-Score nach einer dreijährigen, homerischen Saga und einem erbittertem Kampf endlich offiziell anerkannt wurde 8.
Ende Oktober 2017 erscheint dann der entsprechende Erlass, der die vom französischen Staat empfohlene Form der sogenannten «ergänzenden Nährwertdeklaration» mittels Nutri-Score festlegt 9. Hercberg und Julia kommentieren diesen offiziellen Schritt der Regierung. Sie weisen darauf hin, dass der Nutri-Score «auf wissenschaftlichen Beweisen» fundiere, ein Teil der Industrie sich aber gegen den Nutri-Score wehren würde und die Industrie mit der Entwicklung eines eigenen Systems die Konsument:innen nur verwirren wolle 5.
Der Nutri-Score
In der 2017er Dezemberausgabe des Public Health Panorama, einer in der Fachwelt unbekannten und mittlerweile nicht mehr auffindbaren Zeitschrift der WHO, beschreiben Hercberg und Julia in einem umfassenden Bericht die Entwicklung des Nutri-Scores 10. Der Score basiert auf dem britischen Ofcom Ampelsystem, das beurteilen soll, ob sich Lebensmittel für die Werbung bei Kindern eignen 11. Dieses System wurde auf die französischen Verhältnisse adaptiert und einer ganzen Reihe an Tests unterzogen.
Der Nutri-Score rangiert Lebensmittel gemäss einem fünffarbigen Schema und den Buchstaben A bis E. Lebensmittel mit einem Buchstaben A auf grünem Hintergrund sind «nutritiv am vorteilhaftesten», solche mit einem Buchstaben E auf rotem Hintergrund sind hingegen «nutritiv am wenigsten vorteilhaft» 2,10. Die Scores A bis E reflektieren den Anteil weniger Charakteristika eines Lebensmittels, die klassischerweise als vorteilhaft respektive unvorteilhaft für die Gesundheit eingestuft werden. Konkret führt dabei die Menge an Energie, gesättigten Fettsäuren, gesamter Zucker und Natrium zu einer negativen Beurteilung des Lebensmittels, während die Menge an Früchten, Gemüse, Hülsenfrüchten, Nüssen, Nahrungsfasern und Protein für die positive Beurteilung verantwortlich sind.
Die «Validierung» des Nutri-Scores
Die vor der Einführung des Nutri-Scores in Frankreich durchgeführten Tests hatten mehrheitlich ein Ziel: Die Prüfung, ob der Nutri-Score die Einteilung eines Lebensmittels gemäss seinem Gehalt der klassischerweise als «negativ» und «positiv» eingestuften Nährstoffen oder Eigenschaften ermöglicht, und ob Konsument:innen dann mehr Lebensmittel mit einem positiven Score einkaufen würden. Dies war bei den in Frankreich durchgeführten Tests der Fall. In der französischen Nährwertdatenbank erhielten zum Beispiel rund 80 Prozent der Früchte und Gemüse den Score A und somit das von Hercberg und Julia definierte Attribut «am Gesündesten»; und Kund:innen französischer Supermarkts füllten ihren Einkaufskorb etwas mehr mit Produkten, die einen «positiven» Nutri-Score aufwiesen 10.
Eine Prüfung, inwiefern die Wahl von Lebensmitteln gemäss dem Nutri-Score eine Vorhersage auf das künftige Entstehen von Krankheiten ermöglicht, fand aber vor der Einführung des Nutri-Scores nicht statt. Gemäss einer kürzlich erschienenen, fachlichen Beurteilung, die ohne Beteiligung von den Entwickelnden des Nutri-Scores erstellt wurde, steht eine solche Validierung sogar heute noch aus 12. Nur anhand einer solchen Validierung liesse sich aber beurteilen, ob der Nutri-Score wirklich sinnvoll ist oder nicht.
Der Nutri-Score entspricht nicht den gesetzlichen Vorgaben
Jede gesundheitsbezogene Angabe im Kontext der Vermarktung oder des Verkaufs eines Lebensmittels ist in Europa und der Schweiz durch eine gesetzliche Verordnung geregelt. In Europa ist es die Health Claim Verordnung, die in der Schweiz in der Verordnung über die Information zu den Lebensmitteln integriert ist 13,14. Zu den gesundheitsbezogenen Angaben gehört jede deklarierte Wirkung auf den Stoffwechsel oder die Gesundheit, also auch, ob der Konsum eines Lebensmittels «vorteilhaft» oder «unvorteilhaft» ist.
Der Nutri-Score ist zweifelsfrei eine solche Angabe, da es Lebensmittel als «vorteilhaft/gesund» oder «unvorteilhaft/ungesund» einstuft. Die entsprechende wissenschaftliche Evidenz, dass eine Wahl der Lebensmittel gemäss Nutri-Score tatsächlich die Gesundheit positiv beeinflusst, fehlt aber, wie aus der oben erwähnten Beurteilung hervorgeht. Somit verbietet, Stand heute, die Health Claim Verordnung die Nutzung des Nutri-Scores und dies wurde kürzlich sogar in einer Fachpublikation festgehalten 15. Dies wird aber ignoriert und der Nutri-Score ist in Frankreich implementiert. Eine Handvoll weiterer, europäischer Länder – inklusive der Schweiz – bemüht sich zudem um dessen Einführung.
Der Nutri-Score ignoriert den oder die Empfänger:in
Eine wesentliche Problematik von Ampelsystemen, anhand derer die Lebensmittel beurteilt werden, ist ihre Prämisse. Sie gehen davon aus, dass allein die in einem Lebensmittel analysierte Menge eines Stoffes für die Wirkung des Stoffes im Körper verantwortlich ist. Dieser reduktionistische Ansatz widerspricht aber diversen, grundlegenden Prinzipien der Ernährung. Eines davon ist, dass der Stoffwechselzustand oder der Lebensstil der Person, die den Stoff aufnimmt, massgebend die Verwertung und somit den Nährwert des Stoffes beeinflusst. Dieses Grundprinzip ist zum Beispiel bei einer Störung in der Verstoffwechslung der Kohlenhydrate be- und anerkannt, wo die unterschiedliche Wirkung einer gleichen Menge an Kohlenhydraten zum Allgemeinwissen der Fachleute im Gesundheitsbereich gehört. Aber dieses Prinzip wird bei vielen anderen Nährstoffen gerne vergessen. Das Ignorieren des Zustands der empfangenden Person war im Übrigen für die italienische Wettbewerbshörde, die den Nutri-Score als irreführend einstuft, einer der Gründe für ihre negative Beurteilung des Scores.
Der Nutri-Score basiert auf überholten Annahmen
Ein weiteres Problem beim Nutri-Score ist seine Berechnung. Der entsprechende Algorithmus berücksichtigt bei den Nährstoffen den im Labor ermittelten Gehalt an gesättigten Fettsäuren, Salz, gesamten Zucker, Protein und Nahrungsfasern. Dabei gelten gesättigte Fettsäuren, Salz und gesamter Zucker prinzipiell als unvorteilhaft beziehungsweise «ungesund», Protein und Nahrungsfasern als vorteilhaft oder «gesund». Abgesehen von den Nahrungsfasern entspricht aber eine solche Beurteilung nicht der verfügbaren Datenlage und ist generell überholt (siehe zum Beispiel die Notabene Nutrition Artikel zum Salz, Zucker und Protein).
Dies hat auch der renommierte französischer Wissenschaftler und Mediziner, Professor Jean-Michel Lecerf, jüngst in einem öffentlichen Interview pointiert zusammengefasst 16. Der Nutri-Score basiere auf Konzepten aus den 1980er Jahren, wir würden aber heute Jahr 2022 leben. Der Score missachte als erstes die Lebensmittel, in denen die Nährstoffe vorkommen, und beurteile somit die Nährstoffe auf eine überholte, reduktionistische Art und Weise. Ein weiterer Fehler des Nutri-Scores sei die Bewertung pro 100 Gramm Lebensmittel. Sinnvoll wäre hingegen die Beurteilung der effektiv gegessenen Portion eines Lebensmittels, denn diese Menge, und nicht arbiträr definierte 100 Gramm, löse die Wirkung auf den Stoffwechsel aus. Der Nutri-Score würde schliesslich den Grad der Verarbeitung eines Lebensmittels ignorieren. Somit sei für den Nutri-Score irrelevant, ob beim beurteilten Lebensmittel es sich um ein übermässig verarbeitetes Produkt (siehe Artikel zu diesen Produkten für ihre negative Einstufung) oder ein naturbelassenes Lebensmittel handelt.
Auch diverse andere Wissenschaftler weisen auf die von Lecerf erwähnten Mängel des Nutri-Scores hin. Hercberg und sein Team pflegen hingegen jeweils zu kommunizieren, der Nutri-Score basiere auf «umfassender, unvoreingenommener und unparteiischer» wissenschaftlicher Evidenz 17,18. Eine zunehmende Ablehnung des Nutri-Scores komme, so Hercberg, von der Industrie, die teils von der Politik unterstützt werde. Dass auch Wissenschaftler:innen wie Lecerf den Nutri-Score als wenig sinnvoll einstufen, bleibt dabei unerwähnt.
Lebensmittel gemäss Nutri-Score «konstruieren»
Ein ursprüngliches Ziel des Nutri-Scores war auch die «qualitative Verbesserung» von Produkten aus der Industrie. Der Score sollte zu einer Reformulierung der Produkte in Richtung einer «gesünderen» Zusammensetzung motivieren 10. Ganz abgesehen davon, ob die gewählten Nährstoffe für die Berechnung des Nutri-Scores überhaupt in der Lage sind, den Einfluss auf die Gesundheit des entsprechenden Lebensmittels positiv zu beeinflussen, kann man die erhoffte Motivation für eine Reformulierung als sehr ambitiös und selbstbewusst interpretieren.
Die Industrie ist in der Lage, ihre Produkte nach definierten Vorgaben wie zum Beispiel das Erzielen einer A-Bewertung beim Nutri-Score zu rezeptieren. Dies bedeutet aber noch lange nicht, dass das resultierende Produkt gesundheitlich als sinnvoll einzustufen ist. Mittlerweile gibt es diverse Beispiel für solche Konstrukte, die die Sinnhaftigkeit des Nutri-Scores und ähnlich konzipierter Ampelsysteme generell infrage stellen (siehe zum Beispiel das «Knabber-Esspapier» für Kinder mit dem Nutri-Score A, Zugriff: 26.8.2022). Ein Blick in die Datenbank openfoodfacts.de zeigt zudem: Viele Produkte mit einem Score B (hellgrün und damit immer noch eine positive Beurteilung suggerierend) sind übermässig verarbeitete Produkte mit der schlechtesten NOVA Klassifizierung Stufe 4 (siehe Artikel zu übermässig verarbeiteten Lebensmitteln).
Eine «verbesserte» Berechnung des Nutri-Scores ist kaum zu erwarten
Eine Veränderung der Berechnungsgrundlage des Nutri-Scores würde den Nutri-Score nur dann verbessern, wenn
- der Stoffwechselzustand der empfangenden Person berücksichtigt,
- die zur Berechnung des Scores dienenden Nährstoffe gemäss verfügbarer, wissenschaftlicher Evidenz ausgewählt,
- die gewählte Palette an Nährstoffen erheblich erweitert,
- der Grad der Verarbeitung des Lebensmittels berücksichtigt,
- und Aspekte der Nachhaltigkeit in die Beurteilung einfliessen würden.
Eine derartige Berechnung würde aber in Abhängigkeit der Konsument:innen zu unterschiedlichen Nutri-Scores für das gleiche Lebensmittel führen. Für die Rechtspraxis wäre dies problematisch, denn der Score liesse sich dann nicht eindeutig in einem Analyselabor ermitteln. Eine Prüfung durch den Vollzug, ob ein Nutri-Score «richtig» berechnet ist, wäre nicht mehr generell möglich und müsste für jeden Einzelfall erfolgen. Das wäre praktisch nicht umsetzbar und daher wird der Nutri-Score wohl kaum auf eine sinnvolle Art und Weise verbessert werden können.
Kürzlich veröffentlichte ein vom Steuerungskomitee des Nutri-Scores beauftragtes, unabhängiges, wissenschaftliches Komitee einen 135-seitigen Vorschlag zur Aktualisierung des Algorithmus des Nutri-Scores 19. Mitglied des «unabhängigen» Komitees ist Chantal Julia, die den Nutri-Score zusammen mit Serge Hercberg entwickelt hat, und mittlerweile selbst Professorin an der Universität in Paris geworden ist.
Der reduktionistische Ansatz des Nutri-Scores soll auch bei einem Update des Algorithmus bestehen bleiben, der Zustand der Konsument:innen weiterhin nicht berücksichtigt werden. Eine Korrektur des Algorithmus soll aber spezifisch und bewusst zu einer schlechteren Bewertung von Fleisch und Fleischprodukten führen, da diese aktuell aufgrund des hohen Proteingehalts als «zu vorteilhaft» abschneiden würden. Daher solle das im Algorithmus generell als positiv eingestufte Protein bei rotem Fleisch und deren Produkten schlechter bewertet werden als Protein in anderen Lebensmitteln. Dieser Vorschlag zur Aktualisierung ist aber zumindest fraglich. Denn die Evidenz für eine generell negative Beurteilung des roten Fleisches und deren Produkten, ohne Berücksichtigung des Verarbeitungsgrades der restlichen Ernährung und der empfangenden Person, steht auf schwachen Beinen 20. Eine grossangelegte Studie über den Konsum von Fleisch und das Auftreten von Erkrankungen in Kanada zeigt das generelle Problem bei der üblichen Beurteilung von Fleisch auf. Der Zusammenhang zwischen Fleisch sowie deren Produkte und Erkrankungen verändert sich in Abhängigkeit anderer, gleichzeitig verzehrter Lebensmittel 21. Dies wurde aber praktisch bisher nie berücksichtigt.
Nutri-Score in der Schweiz
Studien zum Nutri-Score in einem Schweizer Kontext sind rar. In einer Studie führte der fiktive Einkauf von Lebensmitteln des Schweizer Marktes und mit ausgewiesenem Nutri-Score zu keiner qualitativ «besseren» Wahl der Lebensmittel 22. Dieses Ergebnis ist ähnlich wie die oben erwähnte, französische Marktstudie mit geringem Einfluss auf das Einkaufverhalten – die Hercberg und Julia aber als Bestätigung für die Wirksamkeit des Nutri-Scores interpretieren. Eine zweite Schweizer Studie wurde sogar von den Entwicklern des Nutri-Scores selbst durchgeführt. Ihre Schlussfolgerung lautete: Der Nutri-Score könnte die Wahl der Lebensmittel verbessern und die Last an Krankheiten in der Schweiz mindern 23.
Auch diese Studie folgte aber einem fiktiven Ansatz. In einer online Befragung durften Testpersonen in der Schweiz Produkte des Schweizer Marktes wählen, aber ohne jegliche Prüfung, ob im realen Fall ein entsprechender Einkauf erfolgen und dadurch effektiv die Gesundheit beeinflusst würde. Wie Hercberg, Julia und die restlichen Autor:innen der Studie zudem zum generellen Schluss gelangen, der fiktive Einkauf gemäss Nutri-Score hätte zu einer besseren nutritiven Qualität geführt und dieser fiktive Einkauf könne auch die Last an Krankheiten vermindern, ist nicht nachvollziehbar. Denn das Ergebnis sah folgendermassen aus: Je nach betrachteter Kategorie von Lebensmitteln verbesserten 7 bis 11 Prozent von 1100 Konsument:innen die nutritive Qualität ihres Warenkorbs, 1 bis 3 Prozent verschlechterten die nutritive Qualität – und bei den restlichen 86 bis 92 Prozent blieb die nutritive Qualität des Warenkorbs zwischen dem fiktiven Einkauf von Lebensmitteln mit einem Nutri-Score Logo und Lebensmitteln, die kein Ampelsystem aufwiesen, unverändert. Mit anderen Worten: Das Vorhandensein des Nutri-Scores führte im Schweizer Kontext beim überwiegenden Teil der Konsument:innen zu keiner Veränderung der Einkaufsgewohnheiten.
Fazit
Die Idee hinter dem Nutri-Score und den Ampelsystemen ist nur auf den ersten Blick überzeugend. Eine einfache Einkaufshilfe auf der Vorderseite von Verpackungen von Lebensmitteln hätte das Potenzial, den Einkauf von Lebensmitteln in eine sinnvolle Richtung zu verändern 24. Auch die italienische Wettbewerbsbehörde, die der Supermarktkette Carrefour verboten hat, den Nutri-Score wegen Irreführung der Konsument:innen zu nutzen, würde prinzipiell solche Systeme begrüssen. Aber der Nutri-Score und andere Ampelsysteme verfehlen ihr Ziel. Selbst eine entsprechende Einschätzung zu Händen der Europäischen Kommission schliesst mit dem Fazit, zurzeit gäbe es keine saubere Evidenz, die für vorteilhafte Effekte solcher Systeme spricht 24. Der Einsatz des Nutri-Scores und ähnlicher Systeme ist daher zum jetzigen Zeitpunkt als nicht sinnvoll einzustufen. Und der Nutri-Score kann definitiv – wie auch von der italienischen Wettbewerbsbehörde unterstrichen – die Konsument:innen in die Irre führen.
Für die italienische Behörde ist dies sogar derart gravierend, dass sie den Nutri-Score einerseits als unlautere Praktik eingestuft hat und anderseits als Massnahme zur Behebung dieser Praktik aufführt, entweder auf den Nutri-Score zu verzichten oder bei Produkten mit dem Nutri-Score das Anbringen folgender Warnhinweise fordert 1:
WARNUNGEN: Das NutriScore-System wurde auf der Grundlage eines Algorithmus und wissenschaftlicher Bewertungen entwickelt, die nicht allgemein anerkannt und geteilt werden. Der Nutri-Score berücksichtigt nicht den individuellen Bedarf an Nährstoffen und die Nutri-Score-Bewertung stellt keine absolute Bewertung des Einflusses eines Lebensmittels auf die Gesundheit dar, sondern bezieht sich nur auf die Zusammensetzung desselben in Bezug auf 100 g des Produkts und nicht auf eine verzehrte Portion.
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