Von Dr. sc. nat. ETH Paolo Colombani | Lesezeit 5 bis 6 Minuten

Dieses Quick fact basiert auf dem White Paper «Über Nahrungsproteine in der Ernährung von gesunden Erwachsenen» (Colombani, 2025. Notabene Nutrition. doi: 10.5281/zenodo.17507509, »PDF White Paper), in dem alle Hintergründe und Herleitungen diskutiert und referenziert sind.

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Woher stammen die aktuellen Empfehlungen zur täglichen Proteinzufuhr für Erwachsene?

In Europa verfasst die Europäische Lebensmittelsicherheitsbehörde EFSA die Empfehlungen zur Nährstoffzufuhr. Die Schweizer Bundesverwaltung hat diese Empfehlungen grösstenteils übernommen, auch für die Proteine.

Wie lautet die aktuelle Empfehlung zur täglichen Proteinzufuhr für Erwachsene?

Die aktuell von der EFSA empfohlene Proteinzufuhr wurde im Jahr 2009 veröffentlicht und beträgt für Personen im Alter ab 18 Jahren 0,83 Gramm Protein pro Kilogramm Körpergewicht pro Tag. Für Schwangere ist je nach Schwangerschaftsabschnitt ein Zusatz zwischen 1 und 28 Gramm und für Stillende zwischen 13 und 19 Gramm empfohlen.

Die Schweizer Bundesverwaltung weicht einzig bei den über 65-Jährigen von der EFSA ab, wo sie 1,0 bis 1,2 Gramm pro Kilogramm Körpergewicht pro Tag empfiehlt.

Entsprechen die 0,83 Gramm dem Proteinbedarf?

Nein. Die 0,83 Gramm Protein pro Kilogramm Körpergewicht pro Tag werden zwar häufig als «Proteinbedarf» dargestellt. Dies ist aber ein elementarer Fehler in der Ernährungskommunikation. Der Bedarf eines Nährstoffs ist grundsätzlich geringer als die entsprechende empfohlene Zufuhr. Bei den Proteinen müsste die empfohlene Zufuhr per Definition sicherstellen, dass 97,5 % der Personen in der Zielgruppe ihren Proteinbedarf abdecken (was aber bei 0,83 Gramm nicht der Fall ist, siehe nächste zwei Fragen).

Basieren die aktuellen Empfehlungen auf einem wissenschaftlichen Konsens?

Nein. Die aktuellen Empfehlungen stammen aus dem Jahr 2009, beruhen jedoch auf einer einzigen Literaturauswertung aus dem Jahr 2003. Schon damals – und sogar in der Auswertung selbst – wurde auf erhebliche Mängel der zur Ableitung der Empfehlungen verwendeten Methodik hingewiesen.

Welche Mängel weist die Herleitung der Proteinzufuhr auf?

Die Ableitung der empfohlenen Proteinzufuhr basiert auf der sogenannten Stickstoff-Nullbilanz-Methode. Dieses Verfahren kann prinzipiell nur die minimale Proteinmenge bestimmen, die notwendig ist, um einen Nettoverlust an Körperprotein zu verhindern – nicht jedoch, wie viel Protein für einen optimalen Proteinstoffwechsel erforderlich wäre. Zudem haben Studien gezeigt, dass selbst bei der so ermittelten Zufuhrmenge von 0,83 Gramm pro Kilogramm Körpergewicht manche Erwachsene dennoch einen Nettoverlust an Körperprotein erleiden.

Grundsätzlich gilt eine Nährstoffzufuhr am unteren Limit nicht als ideal, da bereits geringe Schwankungen dazu führen können, dass das Minimum unterschritten wird. Auf diese Problematik wurde bereits vor über 100 Jahren hingewiesen.

Die neue sichere Proteinzufuhr

Laut aktuellen Forschungserkenntnissen liegt die Proteinzufuhr, bei der mit hoher Wahrscheinlichkeit kein Nettoverlust an Körperprotein mehr auftritt, bei etwa 1,2 Gramm pro Kilogramm Körpergewicht und Tag. Dieser Wert ist damit rund 50 Prozent höher als die 2003 berechnete minimale Zufuhrmenge. Wird eine minimale oder bewusst tiefe Proteinzufuhr angestrebt, sollten diese 1,2 Gramm pro Kilogramm Körpergewicht daher als neue Referenz gelten.

Die sichere versus optimale Proteinzufuhr

Bereits in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts unterschieden erste Empfehlungen zur Proteinzufuhr zwischen einer minimalen und einer sogenannten üblichen Zufuhr. Letztere entsprach jener Proteinmenge, die Menschen typischerweise zu sich nahmen, wenn sie keiner Ernährungsvorgabe folgten und ausreichend Nahrung verfügbar war. Sie lag häufig etwa doppelt so hoch wie die minimale Zufuhr, die mittels Stickstoff-Nullbilanz-Studien ermittelt wurde.

Diese Unterscheidung verschwand jedoch in den 1920er-Jahren aus den offiziellen Empfehlungen. Seither wurde nur noch die minimale Proteinzufuhr als Referenzwert angegeben. Im Zuge der Forschung der letzten 30 Jahre zeigte sich jedoch zunehmend, dass weder die minimale noch die neue und heute als sicher geltende Proteinzufuhr ausreicht, um das volle gesundheitliche Potenzial von Nahrungsproteinen zu entfalten.

Die Hebelwirkung der Proteine

Die in Erhebungen aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts dokumentierte übliche Proteinzufuhr entspricht in ihrer Höhe bemerkenswerterweise jener Proteinzufuhr, die in aktuellen Studien zur Proteinhebelwirkung als spontan gewählt beobachtet wird.

Diese im englischen «Protein leverage» genannte Hebelwirkung der Proteine ist einer der wichtigsten Erkenntnisse der Ernährungsforschung der letzten Jahrzehnte. Menschen – aber auch diverse Tierarten, inklusive Schimpansen – essen bei freier Wahl an Lebensmitteln grundsätzlich so viel, bis sie eine bestimmte Proteinmenge eingenommen haben.

Aus diversen Studien am Menschen wurde eine Zielmenge von 15 bis 20 Prozenten der Energiezufuhr in Form von Proteinen identifiziert. Bei einer durchschnittlichen Energiezufuhr, wie sie bei den Erwachsenen in der Schweiz vorliegt, ergibt sich daraus eine Proteinzufuhr von etwa 1,4 bis 1,5 Gramm pro Kilogramm Körpergewicht pro Tag.

Die neue optimale Proteinzufuhr

Die heutige Forschung zur Proteinzufuhr konzentriert sich auf die Wirkung von Nahrungsproteinen auf den Aufbau von Körperproteinen – sowohl im gesamten Organismus als auch spezifisch in der Muskulatur. Eine zusammenfassende Betrachtung der entsprechenden Studien an Erwachsenen im Alter von 18 bis 65 Jahren führt zu folgendem Schluss: Bei Frauen entfaltet sich die optimale Wirkung auf die Muskulatur bei einer Proteinzufuhr von 1,6 bis 1,9 Gramm pro Kilogramm Körpergewicht und Tag, bei Männern liegt der optimale Bereich bei 1,6 bis 2,1 Gramm. Diese Werte beziehen sich auf Situationen mit gleichzeitigem Krafttraining – ein Element, das als Bestandteil eines gesunden Lebensstils gilt und daher in allgemeingültigen Empfehlungen berücksichtigt wird. Eine höhere Proteinzufuhr bringt nach aktuellem Wissensstand keine zusätzlichen Vorteile.

Gibt es eine zu hohe Proteinzufuhr?

Ein Grundprinzip der Ernährung lautet: Von jedem Nährstoff gibt es prinzipiell eine zu geringe, aber auch eine zu hohe Proteinzufuhr. Bei den Nahrungsproteinen liess sich aber bislang keine Höchstzufuhr etablieren, oberhalb derer es zu negativen Auswirkungen kommt.

Ein möglicher Ansatz zur Bestimmung einer solchen Höchstzufuhr wäre die Fähigkeit der Leber, die Bestandteile der Proteine, die Aminosäuren, zu Harnstoff abzubauen. Die Leber vermag, bis umgerechnet knapp 5 Gramm Protein pro Kilogramm Körpergewicht pro Tag zu Harnstoff abzubauen. Eine solch hohe Proteinzufuhr erscheint aber sinnfrei.

Wie sind die neuen Empfehlungen zur Proteinzufuhr grundsätzlich einzuordnen?

Die neuen dualen Empfehlungen zur Proteinzufuhr entsprechen der altbekannten Unterscheidung zwischen einer minimalen/tiefen und einer üblichen/optimalen Zufuhr. Die (noch) aktuell empfohlene tägliche Zufuhr von 0,83 Gramm Protein pro Kilogramm Körpergewicht ist hingegen veraltet und liegt ausserhalb der neuen dualen Empfehlungen, die als ein Kontinuum an Proteinzufuhren von 1,2 bis rund 2,0 Gramm pro Kilogramm Körpergewicht pro Tag betrachtet werden können.

Bei einer Zufuhr unterhalb des unteren Endes der neuen dualen Empfehlungen – so wie bei der aktuellen Empfehlung von 0,83 Gramm pro Kilogramm Körpergewicht pro Tag – erfolgt gemäss Hebelwirkung der Proteine grundsätzlich ein überhöhter Kalorienkonsum im Vergleich zu einer Proteinzufuhr, die innerhalb des Kontinuums liegt. Allein aus diesem Grund ist eine Zufuhr entsprechend der (noch) aktuellen Empfehlung als nicht sinnvoll einzustufen.

Der Bereich von täglich 1,2 bis 2,0 Gramm pro Kilogramm Körpergewicht liegt zudem innerhalb der akzeptablen Proteinzufuhr, die seit dem Jahr 2005 in den USA empfohlen wird. Diese lautet konkret «10 bis 35 Prozent der Kalorien in Form von Proteinen», was für einen Bereich von 2000 bis 3000 Kalorien pro Tag einer Proteinzufuhr von bis rund 3,0 Gramm pro Kilogramm Körpergewicht entspricht. Die neuen dualen Empfehlungen zur täglichen Proteinzufuhr von 1,2 bis 2,0 Gramm pro Kilogramm Körpergewicht sind daher für Europa oder die Schweiz neu – aber bei globaler Betrachtung sind sie seit langem akzeptiert.

Wer eine optimale tägliche Proteinzufuhr anstrebt, visiert somit eine Zufuhr an, die im oberen Bereich des Kontinuums liegt, sicher aber mindestens 1,6 Gramm pro Kilogramm Körpergewicht beträgt. Wer grundsätzlich eine tiefe Proteinzufuhr bevorzugt, aber keinen Nettoverlust an Körperproteinen riskieren will, richtet sich nach dem unteren Bereich des Kontinuums von 1,2 Gramm pro Kilogramm Körpergewicht pro Tag.

Die praktische Umsetzung erfolgt idealerweise anhand von sinnvollen Proteinportionen, die im entsprechenden Quick fact beschrieben sind.

Beitragsbild: © Paolo Colombani